
Entgegen der Annahme, dass Mallorcas Geschichte nur eine Liste von Ruinen ist, ist sie ein zusammenhängendes Netz, bei dem jede Epoche das Fundament für die nächste legt.
- Die Römer schufen die Infrastruktur, die Mauren perfektionierten die Wasserwirtschaft und prägen bis heute die Landwirtschaft.
- Die christliche Rückeroberung manifestierte sich in militärischer (Castell de Bellver) und spiritueller (Klöster) Architektur.
Empfehlung: Betrachten Sie historische Stätten nicht isoliert, sondern als Kapitel einer einzigen, fortlaufenden Erzählung über die Formung der Insel.
Kennen Sie das Gefühl? Sie stehen vor einem Haufen alter Steine auf Mallorca, lesen das Schild mit dem Baujahr und denken: „Aha, interessant.“ Aber der wahre Zusammenhang, die lebendige Geschichte hinter der Fassade, bleibt verborgen. Viele Reiseführer präsentieren die Sehenswürdigkeiten der Insel als eine lose Sammlung von Postkartenmotiven: die römische Ruine hier, das gotische Schloss dort. Man sammelt Orte, aber versteht nicht die Erzählung, die sie miteinander verbindet.
Doch was wäre, wenn diese Orte keine isolierten Punkte auf einer Karte wären, sondern Kapitel in einem einzigen, fesselnden Buch? Was, wenn die Infrastruktur der Römer direkt erklärt, warum die Mauren ihre Gärten an bestimmten Stellen anlegten, und wenn die Form eines Schlosses die gesamte Machtdynamik nach der Rückeroberung offenbart? Die wahre Geschichte Mallorcas ist kein Museum mit Exponaten hinter Glas. Sie ist ein lebendiger Organismus, dessen Spuren in die Landschaft, die Wasserwege und sogar in die touristischen Mythen eingeschrieben sind.
Dieser Artikel ist Ihre persönliche Exkursion. Wir agieren als Geschichtslehrer und nehmen Sie mit auf eine Zeitreise. Wir besuchen nicht nur Steine, sondern lernen, die historischen Schichten zu lesen, die jede Epoche hinterlassen hat. Anstatt nur zu sehen, werden Sie verstehen, wie die talayotische Urbevölkerung, die Römer, die Mauren und die christlichen Eroberer ein strukturelles Erbe schufen, das das heutige Mallorca bis ins Detail formt. Machen Sie sich bereit, die Insel mit völlig neuen Augen zu sehen.
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Um diese historische Zeitreise strukturiert anzugehen, führt unser Weg durch acht Schlüsselthemen. Jedes Kapitel beleuchtet eine andere Facette der Inselgeschichte und zeigt, wie Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verwoben sind.
Inhaltsverzeichnis: Mallorcas Geschichte als lebendige Erzählung
- Warum ist die alte Römerstadt in Alcúdia der Schlüssel zum Verständnis der Inselinfrastruktur?
- Wie revolutionierten die Mauren die Wasserwirtschaft der Insel?
- Chopin und Sand: Wie viel Wahrheit steckt im touristischen Mythos der Zelle 4?
- Warum ist die runde Bauform dieser Burg militärhistorisch so einzigartig in Europa?
- Santuari de Lluc oder Sant Salvador: Welches Kloster bietet mehr spirituelle Geschichte?
- Warum erzählen die Trockenmauern der Tramuntana mehr Geschichte als jedes Museum?
- Wie machen Sie einen Haufen alter Steine für Kinder spannend?
- Warum ist die Talayot-Kultur auf Mallorca weltweit einzigartig und immer noch ein Rätsel?
Warum ist die alte Römerstadt in Alcúdia der Schlüssel zum Verständnis der Inselinfrastruktur?
Um das moderne Mallorca mit seinen Straßen und Siedlungsstrukturen zu verstehen, müssen wir ganz am Anfang der planmäßigen Entwicklung beginnen: in Pollentia. Stellen Sie sich vor, Sie stehen in den Ruinen bei Alcúdia. Dies war nicht nur eine Siedlung; es war die Blaupause für die Zivilisation auf der Insel. Als Hauptstadt der römischen Provinz Balearica war Pollentia das Nervenzentrum, von dem aus die Romanisierung ausging. Die typisch römische Stadtplanung mit ihrem rechtwinkligen Straßennetz (Cardo und Decumanus), dem Forum als sozialem und politischem Zentrum und einem Theater für die Kultur war ein Fremdkörper in der prähistorischen Landschaft.
Fallbeispiel: Pollentia im Vergleich zu deutschen Römerstädten
Pollentia, gegründet 70 v. Chr., war für die Balearen das, was Trier (Augusta Treverorum) für die Provinz Belgica war: eine Hauptstadt, die römisches Recht, Kultur und Bautechnik exportierte. Beide Städte weisen die klassische römische Urbanistik auf. Doch Pollentia hatte eine zusätzliche strategische Bedeutung als Militärhafen, was seine Rolle als Kontrollzentrum über das westliche Mittelmeer unterstreicht.
Die Bedeutung von Pollentia liegt nicht nur in den heute sichtbaren Ruinen des Theaters oder der Wohnhäuser. Ihr wahres Erbe ist unsichtbar und doch omnipräsent: die Idee der Vernetzung. Die Römer bauten die ersten befestigten Straßen, die die Hauptstadt mit anderen Teilen der Insel verbanden. Diese Achsen legten den Grundstein für das Wegenetz, das über Jahrhunderte erweitert und angepasst wurde und bis heute die Logistik Mallorcas bestimmt. Laut archäologischen Dokumentationen war Pollentia über Jahrhunderte die wichtigste römische Siedlung und der entscheidende Ausgangspunkt für die Entwicklung der Insel. Mit einer geschätzten Fläche von 15 bis 20 Hektar für die Gesamtfläche war es eine Metropole, die zeigte, wie man eine Insel organisiert, verwaltet und erschließt – ein strukturelles Erbe, auf dem alle folgenden Kulturen aufbauen sollten.
Wie revolutionierten die Mauren die Wasserwirtschaft der Insel?
Während die Römer das Skelett der Insel in Form von Straßen schufen, gaben die Mauren, die Mallorca ab dem 10. Jahrhundert beherrschten, ihr das lebenswichtige Blutsystem: ein ausgeklügeltes Wassermanagement. Sie brachten nicht nur neue landwirtschaftliche Produkte wie Orangen und Mandeln mit, sondern vor allem das Wissen, wie man Wasser in einer trockenen Landschaft findet, hebt, speichert und verteilt. Dieses Wissen transformierte die trockenen Ebenen in blühende Gärten, die sogenannten „Huertas“.
Das Herzstück dieser Revolution war die Technologie der Wasserräder, bekannt als „Norias“, und der unterirdischen Kanäle, genannt „Qanats“. Diese Systeme ermöglichten es, Grundwasser an die Oberfläche zu befördern und über ein Netz von kleinen Kanälen, den „Acequias“, kilometerweit zu den Feldern zu leiten. Es war eine Meisterleistung des Ingenieurwesens, die perfekt an die Gegebenheiten der Insel angepasst war. Dieses Erbe ist kein totes Ausstellungsstück; es ist eine lebendige Landschaft. Viele dieser Bewässerungssysteme sind bis heute in Betrieb und bilden das Rückgrat der traditionellen Landwirtschaft, besonders rund um Orte wie Sóller und Fornalutx.
Die schiere Menge dieser Anlagen verdeutlicht ihre Bedeutung. Historische Schätzungen gehen von bis zu 4.000 Brunnen und Wasserrädern im 19. Jahrhundert aus, die größtenteils auf maurischer Technik basierten. Die Mauren schufen somit ein wertvolles strukturelles Erbe, das weit über ihre Herrschaftszeit hinaus Bestand hatte. Sie lehrten die Insel, mit ihrer wertvollsten und knappsten Ressource umzugehen – eine Lektion, die heute relevanter ist als je zuvor.

Die kunstvollen Steinkanäle und Terrassen sind ein perfektes Beispiel dafür, wie die Landschaft selbst zum Geschichtsbuch wird. Sie erzählen von einer Zeit, in der Nachhaltigkeit und cleveres Ressourcenmanagement der Schlüssel zum Überleben und Wohlstand waren. Wenn Sie heute durch die Gärten des Tramuntana-Gebirges spazieren, wandeln Sie auf den Spuren dieser meisterhaften Wasser-Ingenieure.
Chopin und Sand: Wie viel Wahrheit steckt im touristischen Mythos der Zelle 4?
Nachdem wir die fundamentalen, aber oft unsichtbaren Schichten der Inselgeschichte betrachtet haben, wenden wir uns nun einer ganz anderen Art von historischer Spur zu: dem konstruierten Mythos. Kaum ein Ort auf Mallorca ist so sehr von einer romantischen Erzählung überlagert wie das Kartäuserkloster in Valldemossa, untrennbar verbunden mit dem Aufenthalt von Frédéric Chopin und George Sand im Winter 1838/39. Doch hier prallen Mythos und Realität aufeinander.
Die touristische Vermarktung zeichnet das Bild eines idyllischen Refugiums, in dem der geniale Komponist einige seiner berühmtesten Préludes schuf. Die Realität, wie sie George Sand in ihrem Buch „Ein Winter auf Mallorca“ beschrieb, war jedoch eine andere. Ihre Aufzeichnungen sind keine romantische Verklärung, sondern ein Zeugnis von Krankheit, Isolation und der Ablehnung durch die lokale Bevölkerung. So schrieb sie über ihre Erfahrungen:
George Sand beschrieb in ‚Ein Winter auf Mallorca‘ ihre schwierige Zeit im Kloster von Valldemossa 1838-39, als Chopin an Tuberkulose litt. Ihre kritischen Beobachtungen über die damaligen Lebensumstände stehen im starken Kontrast zum heute romantisierten Tourismus-Narrativ der idyllischen Künstlerresidenz.
– George Sand, basierend auf einer Analyse von Mallorca Today
Dieser Kontrast zwischen der bitteren Realität und dem heutigen Narrativ ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Geschichte für den Tourismus geformt und oft vereinfacht wird. Das beste Beispiel dafür ist der Streit um die „authentische“ Klosterzelle.
Fallbeispiel: Der Kampf um die Authentizität – Zelle 2 vs. Zelle 4
Bis heute konkurrieren zwei Eigentümerfamilien darum, die „echte“ Zelle zu besitzen, in der Chopin und Sand wohnten. Sowohl Zelle 2 als auch Zelle 4 werden als authentisch vermarktet, komplett mit Pleyel-Klavier und persönlichen Gegenständen. Laut einer Analyse in Merian wird diese Debatte von kommerziellen Interessen befeuert, da historische Dokumente keine eindeutige Antwort liefern. Valldemossa zeigt uns also nicht nur die Geschichte von Chopin, sondern auch die Geschichte, wie Tourismus seine eigenen historischen Wahrheiten schafft.
Ein Besuch in Valldemossa ist somit eine doppelte Lektion: Er bietet Einblick in die Romantik des 19. Jahrhunderts, aber vor allem ist er eine lehrreiche Übung in Medienkompetenz. Er lehrt uns, kritisch zu hinterfragen, welche Geschichten erzählt werden und – was noch wichtiger ist – warum.
Warum ist die runde Bauform dieser Burg militärhistorisch so einzigartig in Europa?
Vom konstruierten Mythos des 19. Jahrhunderts springen wir zurück in die Zeit der Ritter und Könige, zur christlichen Rückeroberung Mallorcas im 13. Jahrhundert. Nichts symbolisiert den neuen Machtanspruch des Königreichs Aragón so eindrucksvoll wie das Castell de Bellver, das über der Bucht von Palma thront. Doch diese Burg ist mehr als nur ein Symbol – sie ist eine militärarchitektonische Revolution, deren Einzigartigkeit in ihrer perfekten Kreisform liegt.
Erbaut ab 1309 unter König Jaume II., bricht Bellver radikal mit der Tradition der viereckigen Burgen, die damals in Europa üblich waren. Warum? Die Antwort ist reine militärische Logik. Eine runde Festung bietet keine Ecken, die als tote Winkel oder Schwachstellen bei einer Belagerung dienen könnten. Sie ermöglichte eine 360-Grad-Verteidigung ohne tote Winkel und bot eine geringere, abgerundete Angriffsfläche für die Geschosse mittelalterlicher Katapulte. Wie eine Studie zur Militärarchitektur hervorhebt, bot die Form einen entscheidenden Vorteil:
Die runde Form bot revolutionäre verteidigungstechnische Vorteile gegen mittelalterliche Belagerungswaffen – geringere Angriffsfläche für Katapultgeschosse
– Archäologisches Institut, zitiert in Die Inselzeitung
Die Genialität der Konstruktion wird besonders im Vergleich mit traditionellen Burgen deutlich, wie sie auch in Deutschland verbreitet waren. Die folgende Tabelle verdeutlicht die konzeptionellen Unterschiede:
| Merkmal | Castell de Bellver | Deutsche Bergfriede |
|---|---|---|
| Bauform | Kreisrund (einzigartig) | Meist viereckig |
| Verteidigungsvorteil | Keine toten Winkel, 360° Sicht | Ecken als Schwachstellen |
| Erbauung | 1309 unter Jaume II | 11.-13. Jahrhundert |
| Funktion | Palast und Gefängnis | Primär Verteidigung |
Das Castell de Bellver ist somit nicht nur ein schönes Schloss mit „schöner Aussicht“ (katalanisch: Bell ver). Es ist ein steinernes Manifest militärischer Intelligenz und strategischer Weitsicht. Es demonstriert, wie die neuen Herrscher Mallorcas modernste Technik nutzten, um ihre Macht zu sichern und unmissverständlich zu zeigen, wer das Sagen auf der Insel hatte.
Santuari de Lluc oder Sant Salvador: Welches Kloster bietet mehr spirituelle Geschichte?
Nachdem wir die militärische Machtdemonstration der neuen christlichen Herrscher betrachtet haben, wenden wir uns ihrer spirituellen Macht zu. Zwei Orte stehen dabei im Zentrum der mallorquinischen Frömmigkeit: das Santuari de Lluc im Herzen der Tramuntana und das Santuari de Sant Salvador, das wie ein Wächter über der Ostküste thront. Die Frage ist nicht, welches „besser“ ist, sondern welche unterschiedlichen Aspekte der spirituellen Geschichte sie repräsentieren.
Das Santuari de Lluc ist zweifellos das spirituelle Herz der Insel. Es ist der wichtigste Wallfahrtsort und beherbergt die Schutzpatronin Mallorcas, die „Mare de Déu de Lluc“. Die spirituelle Kontinuität wird durch den weltberühmten Knabenchor „Els Blauets“ verkörpert, dessen Tradition bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht – für deutsche Besucher vergleichbar mit der Bedeutung der Regensburger Domspatzen. Lluc ist ein Ort der Einkehr, umgeben von meditativen Steineichenwäldern. Der Weg dorthin, oft zu Fuß auf alten Pilgerpfaden, ist Teil der spirituellen Erfahrung.
Das Santuari de Sant Salvador hingegen ist der dramatische Wächter. Auf einem 509 Meter hohen Berg gelegen, bietet es einen atemberaubenden Panoramablick über die gesamte Insel. Seine Lage ist strategisch und symbolisch zugleich – ein sichtbares Zeichen des Glaubens, das die Küste überblickt. Die Anfahrt über eine serpentinenreiche Straße ist eine Herausforderung und eine Art moderne Pilgerfahrt für Radfahrer und Autofahrer, die mit einem Gefühl der Erhabenheit belohnt wird. Es ist ein Ort, der die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Glauben und Landschaft, greifbar macht.
Interessanterweise stehen laut historischen Analysen beide Klöster auf vorchristlichen heiligen Stätten. Die Kirche hat diese Orte strategisch „überschrieben“, um heidnische Kulte durch christliche zu ersetzen – ein gängiges Muster der Machtsicherung. Lluc repräsentiert also die tiefe, verwurzelte Volksfrömmigkeit, während Sant Salvador die triumphale, weithin sichtbare Präsenz des Glaubens darstellt. Die Wahl zwischen beiden ist keine Frage der Qualität, sondern der persönlichen Suche: Sucht man die innere Einkehr oder die erhabene Weite?
Warum erzählen die Trockenmauern der Tramuntana mehr Geschichte als jedes Museum?
Abseits der großen Monumente, Burgen und Klöster gibt es auf Mallorca ein stilles, aber monumentales Geschichtsbuch, das sich über hunderte von Kilometern erstreckt: die Trockenmauern (‚Pedra en sec‘) der Serra de Tramuntana. Diese Mauern sind keine reinen Grundstücksgrenzen. Sie sind das Zeugnis eines jahrhundertelangen Kampfes und einer einzigartigen Symbiose zwischen Mensch und Natur. Sie erzählen die Geschichte des einfachen Volkes, ihre Mühen, ihre Genialität und ihre Fähigkeit, einer kargen Berglandschaft fruchtbares Land abzuringen.
Nach der christlichen Rückeroberung wurde das Land neu verteilt. Während die fruchtbaren Ebenen an den Adel gingen, blieb der einfachen Bevölkerung oft nur das steile, steinige Gelände der Tramuntana. Um hier überleben zu können, entwickelten sie die Technik der Terrassierung. Stein für Stein sammelten sie die Felsen aus dem Boden und schichteten sie ohne Mörtel zu Mauern auf, die kleine, ebene Flächen für den Anbau von Olivenbäumen und Gemüse schufen. Dieses System verhinderte die Bodenerosion und schuf ein einzigartiges Mikroklima. Die Landschaft der Tramuntana, wie wir sie heute kennen, ist also keine unberührte Natur, sondern eine von Menschenhand geschaffene Kulturlandschaft.
Dieses gewaltige Werk wurde von spezialisierten Handwerkern, den „Margers“, errichtet. Ihr über Generationen weitergegebenes Wissen ist heute ein aussterbendes Handwerk, das durch Kulturinitiativen bewahrt wird – ähnlich den deutschen Bemühungen um den Erhalt der Weinbauterrassen an Mosel und Rhein. Die UNESCO hat die Bedeutung dieser Landschaft erkannt und die Serra de Tramuntana zum Welterbe erklärt, wobei sie explizit die jahrhundertealte ‚Pedra en sec‘-Technik auf einer Fläche mit 550 km Küstenlinie als schützenswert würdigt. Diese Mauern erzählen von sozialer Ungleichheit, von menschlicher Widerstandsfähigkeit und von einem tiefen Verständnis für Ökologie, lange bevor das Wort überhaupt erfunden wurde. Sie sind das wahre, demokratische Monument Mallorcas, gebaut nicht von Königen, sondern von unzähligen namenlosen Bauern.
Das Wichtigste in Kürze
- Fundament der Zivilisation: Die prähistorische Talayot-Kultur schuf die ersten monumentalen Bauten und legte die Grundlage für spätere Siedlungen.
- Strukturelles Erbe: Römer (Straßen) und Mauren (Wasserwirtschaft) hinterließen Infrastrukturen, die die Insel bis heute prägen.
- Macht und Glaube: Die christliche Rückeroberung manifestierte sich in sichtbaren Symbolen wie dem strategisch genialen Castell de Bellver und den spirituellen Zentren Lluc und Sant Salvador.
- Geschichte ist formbar: Der touristische Mythos um Chopin in Valldemossa zeigt, wie Erzählungen für kommerzielle Zwecke geformt werden können und sich von der Realität entfernen.
Wie machen Sie einen Haufen alter Steine für Kinder spannend?
Nachdem wir die komplexen historischen Schichten Mallorcas durchdrungen haben, stellt sich eine sehr praktische Frage, besonders für Lehrer und Familien: Wie vermittelt man diese Faszination an die nächste Generation? Ein Kind sieht in einer talayotischen Siedlung oft nur einen „Haufen alter Steine“. Der Schlüssel liegt darin, von der passiven Betrachtung zur aktiven Entdeckung überzugehen und die Fantasie anzuregen. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen, statt nur Fakten zu präsentieren.
Anstatt Jahreszahlen herunterzubeten, verwandeln Sie den Besuch in ein Abenteuer. Die massiven Steine der Talayots sind perfekt dafür geeignet. Fragen Sie nicht: „Wann wurde das gebaut?“, sondern: „Stell dir vor, wir hätten keine Kräne. Wie viele von uns bräuchte es, um nur diesen einen Stein zu bewegen?“ Plötzlich wird die abstrakte Bauleistung greifbar. Die Ruinen werden von einem statischen Monument zu einem dynamischen Spielplatz für die Vorstellungskraft.
Der Fokus sollte auf der menschlichen Erfahrung liegen. Wer waren die Menschen, die hier lebten? Was haben sie gefühlt? Ein Wachturm ist nicht nur ein Turm; er ist der Arbeitsplatz eines Wächters, der Tag und Nacht nach feindlichen Schiffen Ausschau hielt. Ein kleiner, enger Durchgang ist nicht nur ein Loch in der Mauer; er könnte ein geheimer Fluchtweg oder das perfekte Versteck für ein Kind von damals gewesen sein. Indem wir die Perspektive wechseln und die Ruinen als Lebensraum begreifen, werden sie lebendig.
Ihre Checkliste: Die Talayot-Challenge für junge Entdecker
- Finde den größten Stein und stell dir vor, wie viele Menschen nötig waren, ihn zu bewegen!
- Klettere auf den sichersten Aussichtspunkt und entdecke, was die Wächter vor 3000 Jahren gesehen haben.
- Entdecke einen Eingang, durch den nur ein Kind passt – waren das geheime Fluchtwege?
- Suche nach Spuren von Werkzeugen in den Steinen – wie könnten sie die Steine bearbeitet haben?
- Stelle dir vor, du wärst ein Kind der Talayot-Zeit: Wo war dein Lieblingsversteck in dieser Siedlung?
Dieser spielerische Ansatz verwandelt einen lehrreichen Ausflug in ein unvergessliches Abenteuer. Die Kinder lernen nicht nur historische Fakten, sondern entwickeln Empathie für die Menschen der Vergangenheit und ein Gespür für die Geschichten, die in der Landschaft verborgen sind. So wird aus einem Haufen Steine ein Tor zu einer anderen Welt.
Warum ist die Talayot-Kultur auf Mallorca weltweit einzigartig und immer noch ein Rätsel?
Wir beenden unsere Zeitreise dort, wo alles begann: im tiefen Nebel der Vorgeschichte, bei der Talayot-Kultur. Diese Kultur, die sich zwischen 1300 und 123 v. Chr. (der Ankunft der Römer) entwickelte, ist das „Kapitel Null“ der mallorquinischen Geschichte. Sie ist nicht nur die Grundlage für alles, was folgte, sondern auch ein archäologisches Rätsel, das sie weltweit einzigartig macht. Warum? Weil sie monumentale Steinbauten schuf, die in dieser Form nirgendwo sonst zu finden sind.
Das charakteristischste Element sind die Talayots selbst: massive, turmartige Bauten aus riesigen Steinblöcken, die ohne Mörtel errichtet wurden. Ihre genaue Funktion ist bis heute umstritten. Dienten sie als Wachtürme, Zeremonialstätten, Statussymbole oder eine Kombination aus allem? Die Etymologie des Wortes gibt einen Hinweis. Wie die Historikerin Karen Schaefer erklärt, leitet sich „Talayot“ vom arabischen Wort ‚at-talayi‘ ab, was so viel wie „Schild“ oder „Nachtwache“ bedeutet, was ihre defensive Funktion unterstreicht. Neben den Talayots errichteten sie auch hufeisenförmige Heiligtümer (Taulas) und ummauerte Siedlungen, die in über 20 großen Siedlungen mehreren Hundert Bewohnern Platz boten.
Was diese Kultur so besonders macht, ist ihre Isolation und ihre Eigenständigkeit. Während andere mediterrane Kulturen bereits schrieben, Handel trieben und komplexe Staaten bildeten, entwickelte sich auf Mallorca eine ganz eigene Form der Zivilisation. Zwar gibt es in Norddeutschland zeitgleiche Megalithbauten wie die Hünengräber, doch die spezifische Architektur der Talayots ist ein reines Inselphänomen. Sie waren Meister der Steinbearbeitung, die mit einfachsten Mitteln eine beeindruckende Monumentalarchitektur schufen, die die Landschaft für immer veränderte.
Die Talayot-Kultur ist somit das Fundament, auf dem die Römer später ihre Städte bauten. Sie ist der Beweis dafür, dass die Geschichte Mallorcas nicht erst mit den großen, bekannten Imperien begann, sondern tief in der prähistorischen Erde der Insel verwurzelt ist. Jede dieser rätselhaften Ruinen ist eine offene Frage an die Vergangenheit und eine Erinnerung daran, dass es immer noch Geheimnisse zu entdecken gibt.
Häufige Fragen zur Talayot-Kultur auf Mallorca
Warum bauten die Menschen damals so große Türme?
Die Talayot-Türme dienten als Wachtürme zum Schutz vor Feinden von See und als gemeinschaftliche Versammlungs- und Speicherorte – eine Mischung aus einer kleinen Burg und einem Dorfgemeinschaftshaus.
Wie alt sind die Talayot-Siedlungen?
Sie entstanden vor etwa 3000 Jahren in der Bronzezeit (ca. 1300-800 v.Chr.). Damit sind sie deutlich älter als die Ankunft der Römer auf Mallorca.
Gibt es ähnliche Bauwerke in Deutschland?
Ja, die Hünengräber in Norddeutschland stammen aus einer ähnlichen prähistorischen Epoche und zeigen ebenfalls den Bau mit riesigen Steinen (Megalithkultur). Die turmartige Form der mallorquinischen Talayots ist in ihrer spezifischen Architektur jedoch weltweit einzigartig.